Ist es Schlager, Dance, Rock oder Pop? - Künstler im Genre Schlager setzen sich selbst Schachmatt

Erneut wird eine Single vom Label als das ultimative "Pop-Dance-Schlager-Genre" promotet. Dabei wird gleich die Frage in den Raum gestellt: "Ist es Schlager? Ist es Dance? Ist es Pop?" - Und wenn man nicht wirklich weiß, was richtig oder falsch ist, schreibt man: "Es ist auf alle Fälle Simone!" Hierbei handelt es sich um die am Freitag erscheinende Single "Herzenergie" von der österreichischen Schlagersängerin Simone. Die Singlefacts vom Schlager-Label Telamo sprechen eine klare Sprache: "Wir wissen selbst nicht, was das ist! - Aber gut und modern soll es einfach sein!"

Simone ist kein Einzelfall. Im Laufe der letzte drei Jahre tauchen immer mehr kontroverse Genre-Spezifikationen der Labels auf. Sie und ihre Künstler suchen nach dem richtigen In-Sound, der den Schlager schlichtweg modern klingen lässt. Bei dem ganzen geschlagerten Pop-Trance-Dance-Trap-Rock-Indie-Irrsinn setzen sie sich und ihr Genre "Schlager" selbst Schachmatt.

Es gibt nur das eine Genre "Schlager" oder "Popmusik". Schlagersängerinnen und -sänger sind keine Popsänger, denn das können sie nicht, um es auf den Punkt zu bringen. Würden wir G.G. Anderson, Claudia Jung oder Semino Rossi einen musikalisch arrangierten Popsong singen lassen, würde dieser schlichtweg nach Schlager klingen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Song mit Akustikinstrumenten oder Nexus-Sounds arrangiert ist. 

Es gibt unterschiedliche Stimmbildungen und nur die wenigsten Stimmen können mehrere Genres singen. Nicht um sonst gibt es genrespezifischen Gesangsunterricht. Man könnte auch einem Mark Forster einen Schlagersong singen lassen. Mit seiner Stimmklangfarbe würde der Titel nie wie Schlager klingen, sondern nur nach "Deutsch Pop". Ebenso wird eine Helene Fischer, die eine professionell ausgebildete Musicalsängerin ist, immer nur nach "Schlager" oder "Musical" klingen. 

Eigentlich gibt es das Genre "Popschlager" überhaupt nicht. Diese Genre-Neuerfindung ist aus der Selbstbehauptung entstanden, dass der Schlager wieder "in" und "modern" ist. Wer in Wikipedia Popschlager eingibt, wird nur Schlager finden. Popschlager ist ein Synonym für die "Wiedergeburt des Schlagers" mit seinen eigenen Anhängern. 

Jedes Genre hat seine eigenen Stilistik. Viele Sängerinnen und Sänger berufen sich auf ihre klassische Gesangsausbildung und sind der Meinung, dass sie Popmusik singen könnten. Das ist ein Trugschluss. Ein Hip-Hop-Tänzer kann auch kein Ballett tanzen. Die Technik geht dem Repertoire immer voraus. Nur weil man einem Schlagersong "Dance-Sounds" untermischt, klingt dieser noch lange nicht nach Popmusik. 

Der Amerikaner David Lee Brewer ist einer der renommierteste Vocal-Coaches unserer Zeit und lebt heute in Berlin. Er bildete über viele Jahre das "Destiny's Child"-Mädchen Beyoncé aus und sagt: "Man muss erst die ureigene Stimme erkennen und entfalten. Sie ist der Grundstein für die Stilistik in der Musik. Wer eine klassische Gesangsausbildung hat, kann grundsätzlich (bis auf Ausnahmen) kein Pop singen." 

Das Klangbild der Schlagersongs - beispielsweise durch Nexus-Sounds - variiert zunehmend, ist aber immer noch dem Genre Schlager zuzuordnen. Die Verkaufsanalytiker versuchen Trends zu entdecken und zu entwickeln. Man unterliegt aktuell dem Irrglauben, dass ein trendiger Schlagersong nur aus Synthis und nicht aus Akustikinstrumenten bestehen darf. Die avisierten Sängerinnen und Sänger der Labels müssen sich von der breiten Masse abheben. Daher werden die Songs nur noch mit Synthis am Computer arrangiert. Marktreiter ist das VST-Plugin Nexus. Aber wie kann ein Schlager modern klingen? Abgesehen von der Stimme - die meistens weniger nach Pop klingt - bietet die moderne Recording-Technik (Digital Audio Workstation) genügend Werkzeuge, damit ein Schlagersong im Klangbild professionell editiert, abgemischt und gemastert werden kann und schlussendlich modern klingt. Das ist auch schon alles, denn wir leben nicht mehr im analogen Zeitalter. 

Irgendwie soll es laut den Singlefacts nicht eindeutig nach Schlager klingen. "Ein moderner Mix aus Pop und Dance" klingt gleich viel moderner und jünger. Dazu noch der Satz "Generationsübergreifend" und die Katze ist im Sack. Man könnte der Auffassung sein, dass man zwar Schlager singen aber nicht damit abgestempelt werden will. Schämen sich manche Sänger für Schlager? Wenn man kritisch gefragt wird, was für Musik man macht und Schlager beim gegenüber nicht gut ankommt, dann weicht man gerne aus: "Ich mache aber Popschlager. Das ist moderner und eine Mischung aus Deutsch Pop und Schlager. Ganz was anders!" - Also doch kein Schlager?

Für einen Musikredakteur sind machen Singlefacts verwirrend. Oft geht man nur noch auf das Pop-Dance-Klangbild und den hochgepriesenen Star-Produzenten ein, als auf den Sänger und die eigentliche Geschichte des Songs. Wie auch, wenn es ein Titel aus der Massenschublade ist? Es gibt zunehmend Bemusterungen ohne irgendwelchen Facts, sodass sich die Redaktion den Song ausgiebig anhören und eine eigene Interpretation schreiben muss - Vorausgesetzt, der Song ist wirklich ausnahmslos gut. Sonst könnte man nur eine leere Seite mit einem Cover-Foto veröffentlichen. Die Alternative wäre, gar nichts zu schreiben. 

Jeder will nicht nur Sänger, sondern Musiker oder Künstler sein. Noch besser, wenn man sich als Singer-Songwriter titulieren kann. Doch die breite Masse im Schlager besteht nur aus Sängern. Die wenigsten sind Musiker, die Instrumente spielen und eigene Songs schreiben können. Das ist auch der Hauptgrund, warum Newcomer sich in der heutigen Schlagerbranche nicht durchsetzen können. Wenn man die breite Masse ansprechen möchte, dann muss man ein eigenständiger Künstler mit Personality sein. Nur Aussehen und eine gute Stimme alleine, reichen nicht aus. Lediglich Eric Philippi ist in den letzten Jahren aus der breiten Masse herausgestochen. Er selbst kann Instrumente spielen und seine eigene Musik komponieren. Das macht einen Künstler aus. Alleine seine Performance "Las Vegas" rührte das TV-Publikum (und ihn selbst) zu Tränen. Echte Geschichten aus dem Leben, die ein Künstler in die Musik packt. Das ist Zukunftsmusik. 

Der Deutsche Schlager kann modern klingen, sollte aber ein musikalisches Niveau beinhalten. Irgendwann wird die Branche wahrscheinlich wieder auf akustische Instrumenten zurückgreifen, damit der Schlager "handmade" klingt.